
INTERVIEW
Zwischen Druck, Selbstzweifeln und dem Weg zurück zur eigenen Stimme
Überforderung schleicht sich oft leise ins Leben – bis der Moment kommt, an dem nichts mehr geht. Selina (Name geändert), 33, spricht offen darüber, wie sie in dieser Situation den Mut fand, Hilfe anzunehmen, ihre Grenzen neu zu setzen und wieder in Kontakt mit ihren eigenen Bedürfnissen zu kommen. Ein ehrliches Gespräch über innere Erwartungen, Selbstmitgefühl und die Kraft, Schritt für Schritt zurückzufinden.
Wie hat sich deine Überforderung im Alltag gezeigt – gab es einen Moment, in dem du gemerkt hast: „So geht es nicht weiter?“
Das war ein schleichender Prozess. Ich habe festgestellt, dass ich im Alltag immer gereizter war. Ich begann schlechter zu schlafen und mein generelles Angstniveau stieg merklich an. Die kleinsten alltäglichen Dinge begannen mich zu überfordern. Jede Aufgabe, jede Erledigung wurde extrem anstrengend und löste in mir grosse Angst aus. Eines Abends war meine Angst vor dem nachfolgenden Tag so gross, dass meine Gedanken nur noch schrien: Du kannst das nicht mehr, du musst das beenden. Am nächsten Tag ging ich zur Hausärztin und liess mich krankschreiben.
Hattest du das Gefühl, im Beruf funktionieren zu müssen – selbst wenn es dir innerlich schlecht ging?
Ja, das hatte ich ständig – und das, obwohl diese Erwartung gar nicht von aussen an mich getragen wurde. Vor allem ich selbst hatte mir diesen Druck gemacht.
Gab es konkrete Situationen, in denen du deine Bedürfnisse nicht aussprechen konntest – oder nicht ernst genommen wurdest?
Es gab immer wieder Situationen, in denen ich meinem beruflichen Umfeld nicht mitteilen konnte, dass bzw. womit ich Schwierigkeiten hatte. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass meine Anliegen ernst genommen worden wären. Ich hätte nur ein bisschen mehr Mut gebraucht, sie anzusprechen. Vielleicht wäre dann vieles anders gekommen.
Welche Rolle spielte dein privates Umfeld in dieser Zeit – war es eher Unterstützung oder zusätzliche Belastung?
Mein privates Umfeld war für mich sehr unterstützend. Es hat mich auf meinem Weg begleitet und war stets bemüht, mich nicht in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern mich dazu zu ermutigen das zu tun, was sich für mich richtig anfühlt.
Hattest du das Gefühl, auch zuhause wenig Raum für dich zu haben?
Dies stellte für mich keine Herausforderung dar. Ich hatte viel Zeit und Raum für mich selbst. 😊
Wie hast du schrittweise wieder gelernt, deine eigenen Wünsche zu erkennen – und für sie einzustehen?
Ich habe angefangen, Fragen oder Aufgaben nicht direkt, sondern zunächst mit «Ich überlege es mir und komme auf dich zurück.» zu beantworten. Dies erlaubt mir einen Moment der Ruhe, in dem ich in mich hineinhören und feststellen kann, was wirklich für mich stimmig ist. Ich gehe in eine Art inneren Dialog und spreche mir beispielsweise Mut zu, wenn ich eine Anfrage ablehnen möchte. Ganz viel Verständnis für mich selbst ist da, glaube ich, der Schlüssel.
Gab es einen Moment, der für dich wie ein Wendepunkt war?
Ich kann keinen bestimmten Augenblick festmachen, in dem ich mich verändert habe. Trotzdem ist mir erst kürzlich aufgefallen, dass es mir gelingt, Dinge anders – positiver – zu sehen. Weshalb das jetzt möglich ist, kann ich auf keinen bestimmten Grund zurückführen. Womöglich ist es ein Zusammenspiel aus Reflektion, Selbstfürsorge und Zeit, die mich dahin gebracht haben, wo ich heute bin.
Welche inneren oder äusseren Erwartungen haben dich am meisten unter Druck gesetzt – und wie gehst du heute damit um?
Ich habe schon seit kindstagen sehr hohe Erwartungen an mich selbst. Es geht mir dabei insbesondere darum, gestellte Aufgaben oder Rollen möglichst perfekt und zur vollsten Zufriedenheit des Umfelds auszuführen. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass meine Mitmenschen mich auch noch mögen und schätzen, wenn ich mal etwas nicht perfekt mache. Am meisten hadere ich noch damit, mich selbst nicht zu verurteilen, wenn ich eine Aufgabe nicht perfekt erfülle.
Was hat dir geholfen, klarer deine Grenzen zu setzen – z. B. im Job oder im Familienleben?
Hier kommt für mich der innere Dialog sehr stark zum Tragen. Zunächst einmal höre ich in mich hinein, nehme mir einen Moment Zeit um «mit mir abzuklären», ob ich den gestellten Anforderungen gewachsen bin oder, ob ich da schon beim blossen Gedanken eine Überforderung spüre. Im zweiten Fall praktiziere ich – ebenfalls im inneren Dialog – ganz viel Selbstmitgefühl, das mir hilft, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen.
Was würdest du anderen sagen, die sich gerade selbst „zwischen allen Fronten“ verlieren?
Gib dir Zeit und erlaube dir, deine Gefühle und dein Verlorensein anzunehmen. Auch wenn es sich gerade so anfühlt, als wüsstest du selbst nicht mehr, was du willst, gibt es in dir eine leise Stimme, die es genau weiss. Du kannst sie wiederfinden, wenn du dir selbst geduldig zuhörst und dir mit Freundlichkeit und Verständnis begegnest.
Was hast du über dich selbst gelernt, wo stehst du heute?
Früher habe ich meine eigenen Bedürfnisse oft übergangen, um Aufgaben zu erfüllen, Erwartungen zu entsprechen oder einfach zu funktionieren. Ich dachte lange, dass es meine Pflicht sei, mich selbst zurückzunehmen. Doch mit der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr mich das innerlich ausgelaugt hat. Heute weiss ich, dass meine Grenzen genauso wichtig sind wie die der anderen – und dass es weder egoistisch noch falsch ist, sie zu schützen. Ich stehe jetzt an einem Punkt, an dem ich mir selbst mehr vertraue, meiner inneren Stimme Raum gebe und an mich glaube.